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Von der Beutelratte zur Fledermaus
Indiomärchen aus Südamerika
Da war einmal eine Beutelratte, die war ihr altes Leben müde.
„Ich bin zu alt für das Rattenleben“, sagte sie sich, „meine Beine sind
schwer und wollen nicht mehr. Es wird Zeit, dass ich mich verwandle. Aber was
soll ich werden? Ich will im Dunkeln meine Wege finden, ohne dass man mich sieht.
Soll ich also eine Schabe werden? Ach, nein, die Leute würden mich verachten
und zertreten. Soll ich eine Schlange werden? Lieber nicht, dann wird man mich
fürchten und hassen. Ich will eine Fledermaus werden! Die fliegt durch die
Nacht und frisst reife Bananen."
Tja, und dann ging die alte Beutelratte daran, sich zu fledermausen. Mit
ihrem langen Schwanz und ihren Hinterpfoten hielt sie sich fest an einem Zweig
und hängte sich mit dem Kopf nach unten auf, wie das die Fledermäuse nun einmal
so tun.
Aber davon bekam sie einen Schluckauf. Eine Fledermaus, die vorüberflog, hörte, wie sie schluckte und schluckte und schluckte. Sie flatterte um
die Ratte herum.
„Was hast du denn vor? Willst du dich über mich lustig machen?“
„Nein“, sagte die Beutelratte, „ich will mich nicht über dich lustig machen.
Ich will mich fledermausen.“
„Wir Fledermäuse haben keinen Schwanz', sagte die Fledermaus.
Da warf die Beutelratte ihren Schwanz ab und hielt sich nur noch mit den
Hinterpfoten fest.
„Wir Fledermäuse brauchen keinen Beutel!“
Da warf die Beutelratte ihren Beutel fort.
„Wir Fledermäuse haben Flügel!“
Da dehnte und dehnte die Ratte ihre alte Haut und spannte neue Flügel
aus.
Die Fledermaus flog fort und sagte zu ihrem Volk: „Denkt euch, was ich
gesehen hab! Da hinten ist eine Ratte, die sich fledermaust. Sie will sich
verwandeln, um mit uns zu leben. Lasst sie in Ruhe, damit sie sich verwandeln
kann.“
Da riefen alle Fledermäuse: „Eine Ratte, die sich fledermaust? Eine
Ratte, die sich fledermaust! Los, los, das müssen wir sehen!“ Und sie flogen
alle da hin und sahen die Ratte, die da hing und sich fledermauste.
„Ratte, Ratte, hast du dich schon verwandelt?“, fragten sie.
„Ja, verwandelt habe ich mich schon“, sagte die Beutelratte, „und ich möchte fliegen. Aber ich fürchte mich.“
„Fürchte dich nicht“, sagten die Fledermäuse, „fliege! Es ist
wunderschön!“ Die alte Beutelratte wollte gerne fliegen, aber sie fürchtete
sich und war ganz schwer vor Angst und zitterte und blieb hängen.
"Hab keine Angst“, sagten die Fledermäuse, „wir werden dich das Fliegen
lehren. Breite nur deine Arme aus, lass deine Flügel schwingen, dann lass dich
fallen und du wirst fliegen.“
Da breitet die alte Ratte ihre neuen Flügel aus, sie lässt sie
schwingen, lässt sich los, sie fliegt.
„Wunderschön ist das!“, ruft sie und fliegt davon durch die Nacht.
Wir können sie nicht sehen, aber sie sieht uns, auch im Dunkeln. Sie
fliegt durch die Nacht und findet Bananen mehr als genug. Und die reifen Bananen,
die frisst sie. Ja, so hat die alte Beutelratte sich gefledermaust.
Ein alter Indianer hat's erzählt und in seinem Land ist es
geschehen."
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Und die Moral von der Geschicht'?
Genauso verhält es sich auch mit dem Wunsch zur Auswanderung oder bei
der Realisierung individueller Träumen:
Wer sich ohne Wenn und Aber unabhängig vom Alter traut Ballast
abzuwerfen, mit alten Gewohnheiten zu brechen, loszulassen, Unbekanntes zu akzeptieren
und sich vorurteilsfrei auf Andersartiges einzulassen, findet zusätzlich zur
erhofften Zufriedenheit oft unerwartet noch sehr viel mehr …
© VINTAGE
URUGUAY
LIFE FIBEL A-Z
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